Einblick ins UND#14

Mit Camembert

In ihrem Text zeigt Christine, dass sie sich dort am wohlsten fühlt, wo die Metaphern wie Pilze aus dem Boden schießen. Im Stilmitteldickicht sucht sie sich die farbenprächtigsten Wortkreationen aus und lässt sie in ihren Texten ungeahnte Verbindungen eingehen. Da ist man sich oft gar nicht mehr sicher wo die Metapher aufhört, und die Erzählung anfängt. Selten war Wut so waghalsig amüsant.

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Er war um die Kurve gekommen und in sie hineingelaufen. Ein harmloser Zusammenprall in einem x-beliebigen Einkaufszentrum, möchte man meinen. Sein Fuß gegen ihren Fuß, sein Oberkörper gegen ihren Oberkörper. Es kam unerwartet. Würde man ihn fragen, er könnte nicht sagen, wo sie sich berührt hatten. Das war mein linker Fuß, ich glaube gegen ihr Schienbein, und irgendwo weiter oben vermutlich auch, hätte er gestammelt und sich dabei wie ein Schwindler gefühlt. Die Berührung hallte ebenso rasch nur mehr als Ahnung nach, wie sie gekommen war.

Die Waschpulverpackung war aufgerissen. Beim Zusammenprall war der Karton, obwohl so dick, aufgeplatzt. Aus dem doch recht ansehnlichen Riss war das Pulver grobkörnig auf ihr linkes Bein hinabgerieselt und hatte sich auf ihren roten Riemchensandalen gesammelt. Bald sah es aus, wie ein schneebedeckter Berg mit blauen Pünktchen, aus dem ihr Bein, und in der Folge sie als Gipfelkreuz, emporstiegen. Sie behielt die Packung fest am dicken Plastikhenkel umklammert und dachte in seiner Verwunderung nicht einmal daran, sie abzusetzen.

Schließlich wich Annemarie einen Schritt zurück, hoffte, dass hinter ihr niemand ging, und sah gespannt zu, wie das Waschpulver weiter ihr Bein hinabglitt. Einzelne Kügelchen blieben am Weg kleben.

Sie blickte auf und stieß ein tonloses »Oh!« aus. Dann platzierte sie ein ansehnliches Stück gut gereiften Camembert auf die rechte Wange ihres One-Night-Stands von vor zwei Wochen, legte den Kopf schief, zog die Augenbrauen zusammen, und war zufrieden. Fürs Erste. Noch krallte sich der Camembert an den Stoppeln des barber- getrimmten Barts fest. Doch er würde bald abrutschen, war sie sich sicher, und lächelte in sich hinein.

Der macht aber ganz auf selbstsicher-verwegen, hatte sich Annemarie an jenem Freitagabend bei der After Work Gin Night im neuerdings angesagten Viertel rund um das ehemalige Schlachthaus gedacht, als Konstantin bereits nach wenigen Malen Blickkontakt auf sie zugesteuert kam. Sie hätte es bereits zu diesem Zeitpunkt wissen sollen, wusste es insgeheim auch, und ärgerte sich in den darauffolgenden Tagen wie so oft mehr über sich als über den anderen. Sie hätte zumindest auf ihre Vorahnung

hören sollen, dass die Versprechungen, die sein Blick, seine Körperhaltung, seine Art sich zu nähern, ihr gaben, leer waren wie die Gin-Flaschen, die zu Lampen umfunktioniert an der Wand hingen.

Er hielt weiterhin Kurs auf sie, als wäre sie der Nordpol und er der Kompass, und zwängte sich zwischen zwei Pärchen durch. Als er dabei kurz nicht zu ihr sah, griff sie das Holzspießchen mit der Gurkenscheibe und dem kleinen getrockneten Ingwerstück, das sie bis dahin am Rand ihres Cocktailglases balanciert hatte, spitz zwischen Daumen und Zeigefinger, und schickte es auf den Weg hinter Konstantins Ohr. Gerade so, als würde sie mit einem Dart-Pfeil auf ihn zielen. Schließlich stand er vor ihr, Gurkenscheibe und Ingwerstückchen auf seinem Ohr ruhend.

Andere beschrieben ihre Schwärmereien und One-Night-Stands umständlich oder verglichen sie mit Prominenten: »Er sah aus wie George Clooney in jungen Jahren nur mit helleren Haaren.« Die vielen Worte und Vergleiche schienen Annemarie zu unpräzise, zu beliebig, zu austauschbar. Ihre gedanklichen Markierungen hatten hingegen so viel Anstand, auf den Abend zugeschnitten zu sein und schärften die Erinnerung an den jeweiligen Mann.

Noch in vielen Monaten müsste sie nur an Spießchen, Gurke und Ingwer denken, schon würde Konstantins Gesicht erscheinen. Seine dunkelblauen Augen, die Haare noch durchgängig braun, dafür sein Bart grau durchsetzt, der hohe Haaransatz, der früher wohl näher an den Augenbrauen lag. Sie könnte Phantombilder erstellen lassen, während sein Gesicht bei jemand anderem schon von George Clooneys überlagert worden wäre.

»Oh«, echote es aus Konstantins Mund, als auch er nach dem Zusammenprall von seinem Handy aufblickte. Dann setzte er ein »Sorry« nach und eröffnete ungewollt den Raum für ein Gespräch. Gerade noch war er über mehrere WhatsApp-Gruppen fast schon körperlich mit seinen Teams in der Agentur verbunden , jetzt knallte er in der Realität des Einkaufszentrums auf wie eine Milchpackung, die einem aus der Hand geglitten war. Die Wucht breitete sich in seinem Kopf wie ein Beben aus und füllte ihn mit Leere.

»Hallo aber auch«, sagte Annemarie.

»Ja. Hallo,« antwortete Konstantin.

Sie blickte ihm in die Augen, eine Augenbraue süffisant hochgezogen. Sein Blick rollte an ihrem Kopf vorbei und verfing sich hinter ihr an einem Vibrator, der in der Auslage eines Sex-Shops stand. Als er das bemerkte, schüttelte er den Kopf, als könnte er dadurch das, was er gerade gesehen hatte, abbeuteln. Es war nur ein kurzes, minimales Ruckeln, aber es reichte, um den Camembert aus seinem klebrigen Schlaf zu wecken. Er rutschte ein wenig und blieb einige Barthaare weiter unten wieder hängen. Konstantin zwang seinen Blick in Annemaries Richtung und fokussierte einen kleinen Leberfleck zwischen ihren Augen. Zwischen oder gleich über den Augen, aber nicht direkt hinein, wenn es Ihnen unangenehm ist, hatte er bei einem Verhandlungs-Coaching gelernt.

»Wolltest du dich nicht melden?«, fragte Annemarie. »Gleich am Montag«, brannte ihr noch auf der Zunge, doch sie ließ es dort liegen. Denn er wusste, dass sie wusste.

Stattdessen legte sie sorgsam zwei Chilis auf ihre Oberlippe, eine zu jeder Seite der Rinne, die sich zur Nase hinaufzieht, und leckte ihre Finger ab. Ein wenig Würze wäre dem Gespräch zuträglich, befand sie.

Konstantin atmete tief ein, seine Nasenlöcher blähten sich, als könnte er die Schärfe riechen, aber vielleicht bildete sich Annemarie das nur ein. Auf jeden Fall sagte er:

»Weißt eh, wie das so ist.«

»Nein. Wie ist es denn?«

Konstantin fühlte sich herausgefordert, wölbte daraufhin die Brust, legte die Stimme ein paar Lagen tiefer und hinterlegte sie mit dem Timbre, für das ihn seine Mitarbeiter beneideten und auf das seine Mitarbeiterinnen wegen der Gänsehaut hofften. »In der Arbeit, also da war es totally crazy.«

Annemarie kräuselte ihre Lippen, die Chilis hatten ihre liebe Not sich festzuhalten. Sie zog eine Augenbraue hoch, atmete ihren Ekel hörbar aus und mit ihm schwarzen Sesam, der sich in Konstantins Bart verfing. Er ließ die grauen Stellen unter seinem Kinn stärker hervortreten. Spätestens jetzt würde der Vergleich mit George Clooney in jungen Jahren nicht mehr tragen.

Konstantin ging von Angriff in Verteidigung über. Er zog seine Schultern hoch und lenkte ein: »Ich wollte dich anrufen, wirklich.« Sein rechter Fuß zuckte, ein schlechtes Zeichen. Annemarie legte sachte einen Kranz billiger Extrawurst auf seine weißen

Understatement-Sneaker. Gewichtsdecken wirken auch beruhigend, dachte sie. Ich möchte dich doch noch ein wenig zappeln sehen, sagte sie zu sich.

»Aha«, antwortete Annemarie.

»Und dann, weißt eh.«

»Was?«

»Auf einmal war es schon wieder Freitag. Da war es mir irgendwie unangenehm.«

Annemarie stellte das Waschmittel ab und verschränkte ihre Arme vor der Brust. Das vergrößerte die Auflagefläche für die Reißnägel, die sie vorsorglich darauf aufhäufte. Wenn es hart auf hart käme, könnte sie sie ihm unter die Haut schieben.

Ein WhatsApp wäre sich wohl ausgegangen, dachte sie, legte den Kopf schief und säuselte: »Wie lange arbeitest du eigentlich?«

»Wie meinst du?«

»In der Agentur. Wenn es so totally crazy ist. Wie lange arbeitest du da?«

Konstantin machte einen Schritt zurück. Er hatte mit einem Mal etwas Bemitleidenswertes an sich, mit seiner eingefallenen Körperhaltung, mit Camembert und Sesam im Gesicht. Er wechselt sein Gehabe wie andere ihr Hemd, dachte sie. Das war ihr in der Bar nicht aufgefallen. Doch da hatten beide schon nach kurzer Zeit dasselbe Ziel vor Augen, sie mussten nur noch herausfinden, ob es sich in seinem oder in ihrem Bett befände. Mittlerweile erschien es ihr schlüssig, dass sie ihre Wohnung angesteuert hatten. Wer sich nicht meldet, möchte auch nicht ortbar sein.

Auf Konstantins Schläfe spiegelte sich der glatte Steinboden des Einkaufszentrums. Der Arme, seufzte Annemarie in sich hinein, vielleicht war ich doch etwas streng mit ihm. Sie faltete ein Winnie Puuh-Taschentuch auseinander und breitete es sachte auf seiner Stirn aus. Ihr ekelte, als es sich unter ihren Fingern feucht zusammenzog.

Sicherheitshalber zerplatzte sie zur Beruhigung einen Sack Crashed-Ice über seinem Kopf. Ein Kampf mit einem Gegner, der bereits zu Boden geht, erschien ihr reizlos.

Die ungeahnte Frische riss Konstantin aus seiner Versteinerung. Er blickte auf seine Rolex, während ihm Eiswasser vom Gesicht tropfte: »Oh je, ich muss schon wieder los.«

»Ach.«

»Ich muss noch schnell eine Flasche Wein kaufen. Gleich da drüben.« Er zeigte schräg hinter sich in den langen Gang des Einkaufszentrums hinein. »Ich habe am Abend diesen Termin und versprochen …«

»Rot oder weiß?«, unterbrach ihn Annemarie.

»Was rot oder weiß?«

»Der Wein. Einen roten oder einen weißen?«

Das schmelzende CrashedIce hatte sich zwischen Wange und Camembert gedrängt und diesen in Bewegung gesetzt. Zwar erst ein kleines Stück, doch schon hinterließ er eine käsige Spur in Konstantins Bart. Annemarie verspürte eine unbändige Lust, den Käse mit einer dünnen Scheibe Baguette abzuwischen und ihm in den Mund zu schieben.

»Die haben einen großartigen Weißen, einen Cabernet Sauvignon Reserve aus Frankreich, Südfrankreich glaube ich. Der würde sicher als Gastgeschenk passen. Bei den Roten sind sie auch sehr gut sortiert. Was solls denn sein? Hast du dir das schon überlegt?«, fragte Annemarie und strich seine Lippen mit Schokolade ein. Es war eine dieser exquisiten, die am Ausgang von Vinotheken zum Verkauf angepriesen werden und gut zu edlem Wein passen.

»Ach, weißt du was, ich helfe dir aussuchen.« Sie hakte sich bei Konstantin unter und drehte ihn scharf nach rechts. Er ließ es geschehen. Die Reisnägel rieselten mit hellem Klirren zu Boden. Ihr Gesicht nahe bei seinem schleckte sie ebenso rasch wie verstohlen über den Wangencamembert. Eine frische, salzige Note unterstrich das Aroma des bereits lang gereiften Käses. Annemarie war zufrieden.

Konstantin versuchte noch zu verstehen, wie aus einer kleinen Unaufmerksamkeit, aus einem unbedachten Schritt, aus einem vermeintlich unverfänglichen Zusammenstoß ein gemeinsamer Wein-Kauf werden konnte. Während er seine Gedanken sortierte, musste Annemarie schon an eine Kettensäge und eine Spitzhake denken. Und an den abgeschiedenen Gang mit den schweren Rotweinen ganz hinten links.

 


 

Christines Leben dreht sich vollumfassend um die Schriftstellerei // egal ob als Literatin, Sachbuchautorin, Schreibtrainerin oder PR Beraterin // das Schönste für sie: zu Beginn weiß sie nie, wo sie ein Text hinbringt // dadurch schreibt sie mit ihren Texten gegen die Fadesse des Alltags an

Über ihren Text schreibt sie:

Die Idee zur Geschichte ist in einem Workshop entstanden. Ausgehend von der Methode, Dinge, die man sich merken möchte, am eigenen Körper vorzustellen. In einem ersten Draft ist Annemarie beim Zusammenprall nur diese »Einkaufsliste« durcheinandergekommen. Schon im zweiten Draft klebten einzelne Produkte an Konstantin. Und schließlich ist Annemarie in Aktion getreten und hat sie Konstantin am Körper platziert. Wie es zu dieser Wendung in der Geschichte gekommen ist, kann ich gar nicht mehr nachvollziehen.

 

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