Einblick ins UND#13

Verschwinden

Egal ob vulgäre Bildsprache oder feine Poesie. Mario Schemmerl weiß in seiner Kürzestgeschichte beides gekonnt miteinander zu verbinden. Mitten hinein ins Herz der pflegerischen Finsternis. Weiterhin frustrierend aktuell.

Teile es auf:

Hol dir das UND#13 – digital oder analog!

 

So wahr ich hier stehe, die Lepovac, dieses aufgetakelte Brunzkissen wird mir nicht abgehen. Den anderen kann sie weiterhin die Nerven rauben. Mir nicht mehr! Was für eine Befreiung, endlich raus aus dem Spiel.

Mir scheint, die Sonne steht heute Morgen besonders tief. Beinahe angestarrt fühle ich mich. Diese Nachtdienste werde ich keinesfalls vermissen. Doch eigenartig ist es, hier wie ein flüchtiges Wesen herauszutreten. Große Abschiede liegen mir nicht. Deshalb war es die beste Entscheidung, mit einem Nachtdienst aufzuhören. Wer wirkliches Interesse an mir hat, kann sich ohnehin jederzeit bei mir melden. Zudem habe ich die Kündigungsfrist eingehalten und stets mit offenen Karten gespielt. Nachbesetzt bin ich auch schon. Wie heißt sie? Barbara, glaube ich. Ach was, was mache ich mir vor, sie werden mich genauso schnell vergessen haben, wie ich selbst die Leute vergessen werde.

Ich denke, ich habe den letzten Dienst gut abgeschlossen. Habe ich dem Tagdienst auch alles übergeben? Schlechte Nachrede kann ich nicht gebrauchen. Im Grunde war die Nacht in Ordnung, wäre da nicht die Lepovac. Die treibt ja jeden in den Wahnsinn. Da bemüht man sich über Jahre hinweg und ist am Ende nichts anderes als eine Magd. Ich könnte sie wirklich … Zum Glück war Mateja da. Und der Harngeruch erst, meine Güte, zum ersten Mal seit langem fiel es mir schwer, die Übelkeit zu unterdrücken. Ihr Zimmer, das hält dich im Schwitzkasten. Der Heizkörper aufgedreht, die nassen Unterhosen darauf und das Fenster zu, und sie mit einer warmen Decke drüber. Jetzt, wo die Türen hinter mir zufallen, kann ich die Beklemmung erst in ihrer vollen Pracht nachempfinden.

Es gibt nichts mehr zu tun. Vor mir breitet sich der Parkplatz wie ein Hafen aus. Mein Spind ist leer und sauber, die Schlüssel habe ich abgegeben. Es gäbe so vieles zu erzählen. Trotzdem muss ich in diesem Moment nach Erinnerungen suchen. Die Trattner Mitzi ist eine Lustige, ich glaube, sie wird mich vermissen. Während der Mitzi ihr Harn in die Leibschüssel ran, ihr ein ordentlicher Wind auszog, erzählt sie wie aus dem Nichts, dass sie gerade vom Sauabstechen geträumt habe. Im Stützpunkt meinte Mateja, sie verstünde mich und wisse selbst nicht, wie lange sie es noch aushalten würde. Immerhin fährt sie gut eine Dreiviertelstunde von Slowenien hierher. Wie viel Zeit habe ich hier zugebracht? Aufopfern darfst du dich für andere Leute. Ich habe es immer gerne gemacht. Aber, Sarah, sagen sie zu mir, du siehst einfach voll fertig aus. Nichts anderes höre ich mehr von meinen Leuten. Ich fühle mich wabbelig und verbraucht. Meine besten Jahre sind im Schatten dieses Irrenhauses vorübergezogen. Und warum fühle ich mich dann wie eine Betrügerin? Warum fühle ich den Brand der Schande in mir drin? Vielleicht ist es ein Fehler und ich lasse sie im Stich?

Mateja kommt. Sie sieht mich an. Fahr vorsichtig, sage ich. Ich werde dich vermissen, Sarah, sagt sie. Ich nicke. Die Sonne steht wirklich verdammt tief heute, denke ich.

 


 

Mario ist Diplomgesunden- und Krankenpfleger aus Graz // hat bereits zwei Bücher mit Shortstories veröffentlicht (Willkommen in der Wunde und Lebendig bleiben) // inspiriert von seinem eigenen Leben sind seine Texte auch immer ein Stück Auf- und Verarbeitung // @mario.schemmerl

Über seinen Text schreibt er:

Die Geschichte Verschwinden ist Teil einer Sammlung von Kürzestgeschichten rund um das Thema Pflegeheim. Im Buch Lebendig bleiben erzähle ich aus verschiedenen Perspektiven aus dem Innenleben dieser hochsensiblen Lebenswelt.

In Verschwinden weicht das Gefühl der Aufopferung dem der Auflösung. Es ist beinah ein Aufwachen aus einem Traum. Für Pflegerin Sarah ist der letzte Dienst im Pflegeheim ein Nachtdienst, und sie selbst, verlässt diesen Ort, schier unsichtbar, wie ein Schiff den Hafen am frühen Morgen. Liegt darin der Schmerz? In der Aufbruchsstimmung die sich noch zu tarnen weiß? In diesem Beruf fühlst du dich verantwortlich, schließlich bist du es auch. Übernimmst du Verantwortung für dich selbst, kündigst du sogar, dann ist wohlmöglich Schuldempfinden dein Begleiter durch die Tür.

Diesen und noch viele weitere Beiträge findest du im UND#13. Lust darauf bekommen? Lesestoff gegen Katerstimmungen…
>> Nicht nur für Hundefreunde!

Post vom UND? Newsletter abonnieren!