Einblick ins UND#17

Leinöl und Fußschweiß

In dieser Kurzgeschichte bringt Alex Gastel auf leichtfüßige Weise zwei Generationen miteinander ins Gespräch, die sich fremder nicht sein könnten. Eine Erforschung von Lust und Erotik abseits jeglicher Altersgrenzen.

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Misstrauisch senkte Irma ihren Hintern auf die Sitzfläche des Rollators und ignorierte das Meckern der Museumsbesucher hinter ihr. Sie massierte ihre Handgelenke. Von wegen ergonomisch. Keinen Meter weiter würde sie mit dem Ding gehen. Irma schnaufte. Die Luft roch nach dem Öl, mit dem sie immer ihren Radieschensalat angemacht hatte: muffig, aber elegant-muffig. Nicht Lieselottes-Zimmer-muffig. War Lieselotte heute auch dabei? Irma drehte den steifen Oberkörper, doch sie sah ihre Mitbewohner und Pfleger Stefan nur aus dem Augenwinkel. Ihr toter Winkel wurde auch immer größer. Vielleicht hieß der deswegen so, wenn er 360 Grad erreichte, war man tot.

Konzentration jetzt, Irma. Ausflug gab’s nicht jeden Tag. Das Gemälde vor ihr war dasselbe wie das auf dem Infoheft zur Sonderausstellung. Ein noch junger Mann, vielleicht Ende sechzig, Anfang siebzig, mit Glatze und grauem Bart, Zähne nicht erkennbar, war an ein Kreuz genagelt, das gerade von drei Handlangern aufgestellt wurde, mit den Füßen nach oben. Irma schluckte. Von den Füßen waren die Sohlen zu sehen, faltig und mit kleinen Knubbelzehen, die um den vorhandenen Platz am Fuß kämpften. Irmas Herz klopfte. War das ein Herzinfarkt? Was hatten sie nochmal in der Infoveranstaltung gelernt? Auch egal, sie wollte das Bild anschauen. In der Mitte der Sohlen drang jeweils ein Nagel aus der gelblichen Haut; aus der einen Wunde ergoss sich ein dünnes Rinnsal Blut und Irma war stolz, noch so gut zu sehen. Ihr wurde heiß. Überall, aber vor allem, und hier zensierte Irma die Stimme in ihrem Kopf sicherheitshalber: in der Unterwäsche. Eine Blasenentzündung? Vielleicht war der Versager von einem Rollator nicht genug gepolstert.

»Entschuldigen Sie, junge Frau«, sagte Irma zu einer Jugendlichen mit pinken Haaren und einem Baumwollbeutel, der mit Viva la Vulva und einer obszönen Zeichnung bedruckt war, »was steht denn da auf dem Schild?«. Wenn Irma noch einmal jung wäre, würde sie sich auch die Haare pink färben. Aber richtig Pink so wie Telekom, nicht so ein leichter Lila-Stich wie schlecht gefärbt. Wie Lieselotte glotzen würde, wenn sie mit pinken Haaren ankäme.

»… brauchen Sie sonst noch was?«, fragte die Jugendliche, die vielleicht eher fünfundzwanzig war, und schaute Irma an, als wäre sie aus dem Hospiz abgehauen.
»Könnten Sie das nochmal wiederholen, ich höre nicht mehr so gut.«
»BRAUCHEN – SIE – SONST – NOCH – WAS?«
»Nein, das davor«, sagte Irma.
Die junge Frau verdrehte die Augen und glaubte, Irma sähe es nicht. »Die Kreuzigung des Heiligen Petrus«, las sie. »Michelangelo Merisi da Caravaggio, Öl auf Leinwand, ausgeliehen von Santa Maria del Popolo, Rom.«
Leinöl! So hieß das Radieschensalatöl.

Irma saß auf dem barrierefreien WC des Museums, die Hose und Stützstrumpfhose runtergezogen, und entspannte ein bisschen nach dem Wasserlassen. Das Gemälde ging ihr nicht aus dem Kopf. Sie fühlte sich noch genau wie vorhin. Nur, dass sie hier allein war. Und halb nackt. Nicht mal ein Pfleger dabei. Die warmen Stellen an ihrem Körper wurden noch wärmer. Probehalber fasste sie eine davon an. Ihr Ellbogen stach. Egal.

Irma wusste, dass Leute masturbierten, sie war nicht vom Mars, auch wenn die Jüngeren, also fast alle, das immer dachten. Sie hatte es nur noch nie ausprobiert, weil ihr nie danach gewesen war. Jetzt war ihr danach. Sie legte den Zeigefinger an ihr … »Teilchen«, hatte Muttern gesagt, als ob Irma eine Mohnschnecke zwischen den Beinen hätte, und die Pfleger wuschen sie immer »und jetzt noch untenrum, Frau Krämer«. Vulva! »Vulva«, flüsterte Irma und schaute zur Toilettentür. Ihre Vulva war noch feucht vom Urin und bei der Berührung zog es oben in ihrem Bauch, gut, nicht wie Magenschmerzen. Dennoch, ganz richtig fühlte sich ihr Finger nicht an. Sie dachte an die Füße im Gemälde. Irma wühlte in ihrer Handtasche und fand einen Labello, Kirschgeschmack. Mit dem schlich sie durch ihre Vulva und weil es sich an einem Knubbel (wie Petrus’ kleiner Zeh) am besten anfühlte, umkreiste sie den. Vom Mond! Nicht vom Mars! Also von beidem war sie nicht her. Irma hechelte, als ob Sommer wäre. Irgendwann rollte der Labellodeckel klappernd über die WC-Fliesen, Irmas andere Hand packte die Assistenzgriffe und sie schaukelte gegen den Kirschduft, bis sie starb. Oder so.

Klopf, klopf! »Alles in Ordnung bei Ihnen, Frau Krämer?«

Irma kramte das schwarze Rechteck raus, das ihr der Neffe – gut, Großneffe, aber wie hörte sich das an? – mit der Hitlerjugendfrisur geschenkt hatte. Der wollte ihr doch eh nur ans Erbe, seit Elisabeth, Gott hab sie selig, alles in Stiftungen gesteckt hatte. Wo war der blaue Kompass zum Internet? Außerdem zuckte Max immer übertrieben zusammen, wenn Inge »betreutes Sterben« statt »betreutes Wohnen« sagte.

Schade, dass ihre Tür kein Schloss hatte. »Füße« tippte sie in die Suchzeile. Das Tablet zeigte Füße und alle sahen gleich aus: beige- bis rosafarben, glatt, jung, perfekt, mutmaßlich von Frauen. Ein Bild zeigte Füße aus Gummi, die man sich anziehen konnte wie einen Schuh.

»alte Füße«. Nein, das war es auch nicht.
»schmutzige Füße«.
»Männerfüße«. Nein, nein, nein.

Wenn Irma im Fernsehen küssende oder sogar nackte (was die alles zeigten!) Leute sah oder wenn Lieselotte Morgan Freeman anschmachtete, fühlte Irma sich wie beim Kakteen Gießen: alles wie immer, die restliche Zeit absitzen und sich zwischendurch über Lieselotte ärgern. Jetzt auch bei den Fotos, Kakteengießgefühl. Warum liebäugelte Lieselotte mit jedem zweiten Schönling im TV und Irma konnte noch so viele Fußfotos anschauen und nichts passierte? Sie nahm das Infoheft aus dem Museum und streichelte über die Petruskreuzigung auf dem Titelblatt. Vielleicht war das Gemälde echter als ein Foto.

Irma kontrollierte, ob die Hausschuhe sicher an den Füßen saßen, drückte sich aus ihrem Sessel hoch und ging in den Flur. An der Pinnwand hingen »Wünsche für gemeinsame Aktivitäten«. Es gab nur einen Eintrag: »Zusammen malen: Lieselotte«. Irma schüttelte den Kopf und setzte ihren Namen neben Lieselottes.

Irma saß in ihrem besten, beige karierten Kostüm auf VelvetSoles Sofa neben VelvetSoles, die in Wahrheit Elena hieß, aber sich gegenüber dem Pfleger, der Irma in zwei Stunden und vierzig Minuten wieder abholen würde, als ihre Nichte Jasmin ausgegeben hatte. Das Zimmer sah aus wie in einem Möbelhaus, außer dass neben dem senfgelben Sofa ein Regal voller Stöckelschuhe in allen Farben und Formen stand. Zwischen Sofa und Regal wartete der Rollator. Warum gab es die nur in grau? Vielleicht sollte sie Elena bitten, eine Tagesdecke über den Rollator zu werfen, wie über einen alten Sessel, den man besser aussortieren sollte. Das Sofa war zu weich. Ihr Rücken tat weh.

»Das ist doch nicht schlimm«, sagte Elena. Ihre Zähne waren gepflegt, der eine Einser stand ein bisschen schräg. Früher hätte man ihr eine Spange eingesetzt, zum Glück war Elena dem entgangen, auch wenn das gegen Irmas Berufsehre ging. Elena redete erst weiter, als Irma fertig überlegt hatte. »Das geht vielen Leuten so, dass sie denken, ihnen gefällt etwas, und wenn sie es dann ausprobieren, ist es doch nichts.« Sie trug ein violettes Wollkleid, eine silberne Strumpfhose ohne Strümpfe und war trotz der Kälte barfuß, die Zehen silbern lackiert.

Irma sah Elenas Füße an und fühlte nichts. Na ja, Verzweiflung. »Was machen wir jetzt noch über zwei Stunden?«, fragte sie.
»Wir können ein bisschen reden.«
Elena nahm Irmas Hand. Irmas Augen tränten seit Jahren ständig, das nervte. »Mir hat noch nie etwas gefallen.«
»Versteh ich gut«, sagte Elena. »Ich bin Aspec*. Das bedeutet asexuelles Spektrum.«
Irma streichelte vorsichtig Elenas Hand. Sie war groß und viel weicher als die Hand von Pfleger Stefan. »Warum arbeiten Sie … warum arbeitest du dann auf der Zuckerbaby-Internetseite?«
»Ich muss ja auch keinen Steifen beim Anblick von Zapfhähnen bekommen, um gut zu kellnern.«
Hoffentlich merkte Irma sich alles, was sie zuhause guhgeln wollte. Wenn man einmal wusste, was möglich war, wollte man nicht mehr aufhören.

»Ich finanzier mir so mein Kunststudium«, sagte Elena gerade.
Irma richtete sich auf, so gut das auf dem Sofa und mit einem krummen Rücken ging. Ein, zwei Zentimeter waren es schon. »Ich wollte auch mal Kunst studieren. Und genug Geld war ja da, aber das wollte ich nicht haben, wer weiß, womit die im Krieg reich geworden waren. Also eine Ausbildung angefangen und mein eigenes Geld verdient, als Zahntechnikerin. Aber vielleicht hätte ich mehr rausgefunden, wenn ich es gemacht hätte wie du, arbeiten und studieren.«
»Aber hat dir das gefallen, Zahntechnik?«
»Ich mochte das Handwerk. Vor allem die Keramikkronen, so eine Miniaturskulptur Schicht für Schicht echter machen.«
»Das hier ist das Zimmer für meine Arbeit mit Klient*innen«, sagte Elena und machte so eine Pause im Wort, »willst du mein richtiges Zimmer sehen?«
Elena half ihr hoch und gemeinsam machten sie sich auf den Weg über die Holzdielen. »Leggins!«, sagte Irma.
»Hm?«
»Schöne Leggins hast du. Ich wünschte, es gäbe solche Stützstrümpfe.«
Auf Elenas Bett lagen eine Jogginghose und ein Unterhemd. An den Wänden standen Regale voller Bücher, schmale Taschenbücher und wuchtige Bildbände, und an den Regalen lehnten Leinwände. Der Geruch von Leinöl explodierte in Irma wie eine Luftmine.

»Alles in Ordnung?« Elena tupfte ihr die Stirn mit einem kalten Tuch ab. Sie roch nach Schweiß, Thymian und Kirsche. Der Geruch von Elena und dem Leinöl ging Irma in die Lunge und stach ihr von innen durch die Brust.
Sie saß auf Elenas Bett. »Malst du?«, fragte sie und fühlte sich dumm und verlegen und aufgeregt.
»Nicht mehr so viel wie früher«, sagte Elena. »Das Studium hilft nicht gerade. Ich sehe die ganzen Meisterwerke und denke, so gut werde ich eh nie. Manchmal jedenfalls. Dann wieder: Fuck it, die Welt hat genug Bilder von alten weißen cis Männern gesehen, und dann geht’s erst mal wieder.«
Irma nahm einen Schluck Wasser aus dem Glas, das Elena ihr hinhielt. »Würdest du meine Füße malen?«
Elena lächelte. Ihr Lächeln sah hier anders aus als in dem Zimmer mit dem senfgelben Sofa. Gut, dass Irmas Rollator drübengeblieben war. »Klar«, sagte Elena, zog ihr Wollkleid über den Kopf und griff nach dem Unterhemd. Der Schritt ihrer silbernen Strumpfhosenleggins war ausgebeult. Ihre Brüste sahen aus wie Irmas, als sie 14 oder 15 war. Der Anblick kegelte Irmas Gedanken zu ihren eigenen Brustwarzen. Sie fühlten sich an wie blühende Kakteen.

Auf Irmas Schoß lag eine flauschige Decke mit Leopardenmuster, nur die Füße schauten unzüchtig heraus, mit dicken Zehennägeln und voller Adern. Elena hatte ihr geholfen, die Strumpfhose und die Hose auszuziehen, nachdem sie ihre Staffelei so aufgebaut hatte, dass Irma das Bild sehen konnte. Sie blickte zwischen Füßen und Bild hin und her und strich großzügige Ockerflächen über die Leinwand, die Augenbrauen zusammengezogen, so dass sich die kräftigen schwarzen Haare in der Mitte fast berührten.
Das Gefühl aus dem Museum war wieder da, aber tausendmal stärker, jetzt, wo jemand sah, was Irma wollte.
»Fass dich ruhig an«, sagte Elena. Sie legte die Palette beiseite und holte ein Fläschchen aus dem Nachttisch. »Hier.«
Irma träufelte das kühle Gel in ihre Hand, zitterte, ein bisschen kleckerte auf die Decke. Beim Weg unter Decke und Schlüpfer ging noch mal mehr verloren, egal. Die Flüssigkeit zwischen ihren Beinen war wie ein Schluck Wasser, nachdem sie den ganzen Tag vergessen hatte zu trinken. Jeden Pinselstrich Elenas zog Irma auf ihrer Vulva nach. Elena setzte sich aufs Bett und verteilte mit den Händen Farbe von der Palette auf Irmas Füßen. Braun, D2, hellblau. Elena malte Füße auf Irmas Füßen, Irma malte Füße auf ihrer Vulva. Elena glitt mit ihren Fingern zwischen steife Zehen, drückte den großen in die eine und die kleinen in die andere Richtung und jedes Mal, wenn einer knackte, wurde Irma fünf Jahre jünger.

Nachdem der zweite Orgasmus ihres Lebens abgeebbt war, weinte Irma.
»Sch sch«, machte Elena, wischte sich die Hände ab und setzte sich hinter sie. Sie schlang die Arme um Irma und wiegte sie wie ein Zuckerbaby.
Irma wusste nicht, wohin mit den verschmierten Fingern und den Tränen. »Einundneunzig Jahre lang. Hab nie geheiratet, kein Rendezvous, dachte, das wär alles nix. Überstunden ohne Ende, die Irma hat ja keine Kinder. Kronen, Spangen, Gipsabdruck und Sonntagabends Radieschensalat und ein Bier.«
Elena nahm ein Taschentuch vom Nachttisch und tupfte zuerst Irmas Gesicht und dann ihre Hände ab.
»Das ist nicht gerecht«, sagte Irma. »Andere haben ihr ganzes Leben zum V … zum Ausprobieren. Wie viele Jahre hab ich denn noch?«
Elena lehnte ihr Kinn auf Irmas Kopf. War sie so winzig?
»Zum Vögeln!« Irma schlug die Hand auf den Mund.
Elena lachte und die Bewegung übertrug sich auf Irmas Körper, als ob sie selbst lachen würde. »Ich habe einen Freund«, sagte Elena, »der erst mit Anfang siebzig rausgefunden hat, dass er ein trans Mann ist.«
»So wie die Georgine Kellermann, aber umgekehrt.«
»Ich würde nicht sagen umgekehrt, weil Geschlecht komplexer ist, aber ja, so ungefähr. Jedenfalls hatte Karim ähnliche Gedanken.«
»Und wie ist er die losgeworden?« Irma stellte sich vor, wie Lieselotte sagen würde, »nach Regen kommt Sonnenschein, mit ihrer Gebissstimme«, und sich über Lieselotte ärgern half schon ein bisschen.
»Gar nicht«, sagte Elena. »Er meint, er bereut’s immer noch. Aber sein Leben wär jetzt so geil, dass es ihm grad egal ist.«

Elena sah auf die Uhr. Irma war spät dran heute. Je nachdem, wie viel Zeit sie tatsächlich mit Malen verbringen würde, könnte das Gemälde fertig werden. Was Irma sagen würde, wenn Elena ihr erzählte, dass ihre Bilder in einer Galerie ausgestellt würden und es schon erste Kaufanfragen gab? Elena würde ihr vorschlagen, das Geld in Zukunft wegzulassen. Ohnehin war Irma ihre letzte Kundin, seit sie das Studium fertig hatte. Irma würde auf stur stellen, aber who knows. Elena hatte Sekt kaltgestellt, vielleicht half’s.
Es klingelte.
Vor ihrer Tür standen eine große Holzkiste, eine Frau in einem cremefarbenen Hosenanzug und mit braunem Aktenkoffer sowie vier Leute in schwarzen Uniformen, die nach Security aussahen.
»What the fuck«, sagte Elena.
»Elena Pashko?«
»Ja.«
»Dürfte ich Sie bitten, sich auszuweisen?«, fragte die Hosenanzuglady.

Die Sicherheitsleute, die Kiste und die Hosenanzuglady standen jetzt in ihrem Wohnzimmer. Das Regal zierten immer noch ein paar ihrer Lieblingshighheels. Die Wände waren mittlerweile voll mit ihren Bildern.
Wahrscheinlich war eines ihrer Gemälde gekauft worden und sollte nun abgeholt werden. Lief das so ab? Die Hosenanzuglady öffnete die Holzkiste routiniert und nahm einen Karton heraus, den sie ebenfalls öffnete. Die Hosenanzuglady hatte sich als Kuratorin vorgestellt und ihren Namen zwar gesagt, aber Elena hatte ihn sofort wieder vergessen – mit Klient*innen wäre ihr das nicht passiert. Die Hosenanzugkuratorin entfernte mehrere Schichten Schaumstoff und zog zwei weiße Baumwollhandschuhe an. Wo blieb Irma? Die Kuratorin wickelte Kunststofffolie und schließlich weißes Seidenpapier herunter. Sie platzierte das Gemälde auf einer Displaystaffelei.
Eine junge Frau, ganz in Schwarz, säbelte gemeinsam mit ihrer alten, faltigen Magd dem Hauptmann Holofernes den Kopf ab, Blutspritzer und alles. Ein Caravaggio, so die mehrheitliche Meinung, 2014 aufgetaucht und zuletzt vor zwei Jahren privat verkauft. Wert geschätzt bei 170 Millionen Dollar. Ein ähnliches Gemälde von ihm hing in Rom. Auf diesem hier sah man die Füße der Magd, schmutzig und geädert. Elena fiel rückwärts auf das Sofa.
Die Kuratorin breitete stapelweise Papiere auf dem Wohnzimmertisch aus. Sie gab Elena einen Brief. »Bevor wir mit dem eigentlichen Papierkram loslegen, soll ich Ihnen das hier geben.«

Liebste Elena,

gute Neuigkeiten! Wenn du das liest, bin ich tot umgefallen und musste nicht im Krankenhaus vor mich hinsiechen, sonst hätte ich persönlich tschüss gesagt. Anbei ein kleines Abschiedsgeschenk. Fühl dich zu nichts verpflichtet, wenn das Bild zu ›alter weißer Mann‹ ist, dann verkauf es wieder.
Ein bisschen Geld war noch übrig, mein Notar wird sich bei dir melden – ich wollte, dass die Schwertjudith eine Überraschung ist –, und du übernimmst meine Anwältin, falls mein Neffe dir Ärger macht, der Schleimscheißer. Für Karim und die anderen ist auch gesorgt. Schick ihnen meine Umarmungen. Vielleicht schaust du ab und an bei Lieselotte vorbei und passt auf, dass sie nicht nur Fernseher schaut, die alte Schachtel. Wunder dich nicht, ich hab ihr meinen Rollator hinterlassen, sie war so neidisch, nachdem du ihn pink lackiert hattest.

Was soll ich sagen, außer: Danke für die Jahre! Für den Ausflug zum Botanischen Garten und dem Dingskaktus, frühstücken mit Karim, wie wir gemeinsam die Drahtskulptur geformt haben und die Dienstagnachmittage, du weißt ja, was wir da gemacht haben. Nachtkönigin hieß der Kaktus! Schreib ich jetzt alles nochmal neu? Ach.

Deine Zuckergranny
Irma


Über Alex:

Alex (they/them) wohnt in Berlin und gibt Workshops zu Empowerment, diskriminierungssensibler Sprache und anderen Themen aus queerer Perspektive // they erklimmt gerne Berggipfel, Brettspielsiegpunktrekorde und die Syntax neuer Sprachen // @empowerndes_schreiben

Über den Text: Diese Geschichte entstand, nachdem ich in einer Assoziationsübung das Wort Fuß sah und Fetisch sowie Caravaggio aufschrieb. Daraufhin ploppte sofort Irma in meinen Kopf auf, als wäre sie schon immer dagewesen. Irma machte sich wiederum auf die Suche und fand Elena, die in diesem Text leider etwas zu kurz kommt. Wie immer sind alle queer, denn nicht-queere Figuren gibt es schon genug.

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